Portia Mayes Vater war Mitbegründer einer florierenden Siedlung von Matrosen und Händlern auf einer unbekannten Insel in der Karibik. Ihrer Hafenstadt gaben sie den Namen Fortune, und von dort aus entwickelte sich ein großes Handelsnetzwerk, durch das Portia mit Zivilisationen und Wissen aus der ganzen Welt vertraut wurde. Portias Vater war Seemann und liebte Geschichten, deshalb las er ihr Tausendundeine Nacht, Shakespeare und griechische Mythen vor. Außerdem brachte er ihr das Segeln und die astronomische Navigation bei. Er weckte einen Durst nach Abenteuer in ihr, sodass sie immer mit ihm auf Reisen gehen wollte.
Einmal begleitete sie ihren Vater auf einer Reise nach Italien, wo er Zucker und Silber gegen seltene Seide und Gewürze tauschte. Außerdem kauften sie sich einen Wurf Cane-Corso-Welpen. Ihr Vater wollte sie zu Jagdhunden ausbilden und bei den jährlichen Jagdwettbewerben in Fortune einsetzen. Er versprach ihr auch, dass sie den stärksten Welpen anlässlich ihres baldigen zwölften Geburtstag behalten durfte. Sie gab den Welpen die Namen Cäsar, König, Schah und Athene. Den kleinsten von ihnen nannte sie Strolch. Doch bevor sie mit der Ausbildung beginnen konnten, trieb ein heftiger Sturm die Nachttraum in das Revier von Freibeutern.
Verzweifelt versuchte ihr Vater, das Schiff und seine Besatzung in Sicherheit zu bringen, aber der gefürchtete Verrückte Molak griff sie mit seiner Flotte an und hatte die Nachttraum schnell unter seine Kontrolle gebracht. Die Überlebenden des ersten Angriffs mussten in brutalen Kämpfen gegeneinander antreten, auf die Molak und seine Crew wetteten. Der Pirat versprach, dass der letzte Überlebende die Freiheit erhalten würde.
Als Portias Vater sich weigerte, mitzukämpfen, folterte ihn der grausamste von Molaks Männern, sein Sohn Tariq, stundenlang, um ihm schließlich ...
... die Kehle aufzuschlitzen.
Sie verschonten Portia, damit sie sie an den Verteidigungsanlagen von Fortune vorbeileiten würde. Molak und Tariq gingen wieder an Bord ihrer Schaluppe und ließen nur eine Notbesatzung auf der Nachttraum zurück. Portia sollte Molak und seine Plünderer nach Fortune führen, damit diese ihre geliebte Stadt angreifen, ausrauben und niederbrennen konnten.
Doch Portia machte sich ihre Kenntnisse der astronomischen Navigation zunutze und führte sie in ein Gebiet, das viele für verflucht hielten. Das Gebiet wurde Drachenzahn genannt und es hieß, es sei der Übergang zu einem dunklen, bösartigen Reich von unsagbarer Grausamkeit, in dem Monster lebten. Portia hoffte, dass sie Molak in sein Verderben führen konnte. Sollte sie dabei sterben, war ihr das auch egal.
Während sie sich dem Drachenzahn näherten, türmten sich dunkle Wolken auf und ein kalter, schwarzer Nebel umgab sie. Es schüttete wie aus Kübeln und ein heftiger Wind erschuf schwarze Wasserberge, die gegen den Mast krachten.
Molak wendete sein Schiff sofort von diesem Sturm ab und überließ Portia ihrem Schicksal. Aber Portia weigerte sich, aufzugeben, als die Nachttraum sich einen Weg durch den dichten Nebel und das Gewitter bahnte. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, als das Schiff knarrte und ächzte und langsam kenterte. Das Letzte, was sie sah, bevor sie der Ozean verschluckte, war der Umriss eines riesigen Tentakels, der auf ihr Schiff niedersauste.
Portia öffnete die schweren Augen und blickte Strolch direkt ins Gesicht. Er leckte über ihr Gesicht und bellte, um sie aufzuwecken. Sie blinzelte das Salzwasser aus ihren Augen und hievte ihren schmerzenden, verletzten Körper vom Boden, brach aber sofort wieder auf dem seltsamen, violetten Sand zusammen. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Mühevoll sammelte sie sich, stand auf und blickte zum Kleinsten des Wurfs. Strolch bellte zweimal und begann dann, am Boden zu schnüffeln. Seine Nase führte sie zu einem Haufen Kokosnüsse und lila Seetang. Sie trocknete den Seetang, brach die Kokosnüsse auf und aß auf den Felsen. Im Hintergrund hörte sie Wesen, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Dann kam die Erkenntnis ... Sie waren auf einer Insel des Drachenzahns gestrandet.
Sie waren in einer seltsamen Welt, einer Zwischenwelt, gelandet, die ihr Vater einst als lebenden Albtraum beschrieben hatte, der den Verstand peinigte und dem Herzen Streiche spielte. Und während sie den seltsamen neuen Geräuschen lauschte, sah sie plötzlich überall Molak.
Instinktiv schloss Portia die Augen und kreischte. Erst, als sich Strolch in ihren Schoß kuschelte und sie mit seinem Bellen in die Realität zurückholte, verstummte sie wieder.
Im Lauf der Jahre ernährte sich Portia von dem, was an Land gespült wurde, während sie gegen die räuberischen Geschöpfe kämpfte, die die Insel bewohnten. Wilde Tiere, grausame Menschen und brutale Abscheulichkeiten, die nicht von dieser Welt waren. Strolch wog mittlerweile über 45 Kilogramm und folgte Portia auf Schritt und Tritt. Sie waren ein beängstigendes Duo und die meisten Überlebenden auf der Insel hielten Abstand. Die wenigen, die nicht so klug waren, bereuten es – wenn sie mit dem Leben davonkamen. Gerade als sie die Hoffnung auf ein Entkommen beinahe aufgegeben hatte, sah sie etwas Unmögliches, während sie am Strand nach Strolch suchte. Sie konnte es kaum fassen, aber da war ...
... die Nachttraum, die vor der Küste im kalten, schwarzen Nebel trieb.
Sie hatte bereits gelernt, dass sie auf dieser Insel nichts anzweifeln oder infrage stellen sollte. Mit einem Pfiff stieg sie ins Wasser, wurde jedoch plötzlich von einer Gruppe Schiffbrüchiger angegriffen. In ihrem Kopf tötete sie Molak 50-mal und ließ nur die am Leben, die sie als Besatzung für ihr Schiff brauchte. Gemeinsam suchten sie tagelang nach Strolch, aber er war nirgendwo zu finden. Er war ...
... fort.
Fort, als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre er nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen.
Jahrzehntelang versetzte Portia die Karibik auf ihrer Suche nach Molak in Angst und Schrecken. Sie griff nur Freibeuter an, nahm ihnen ihr Gold ab und folterte sie auf sadistischste Weise, um eine unerklärliche Dunkelheit in ihr zu befriedigen. Eine Dunkelheit, die wie ein Parasit nach Blut verlangte, bis er satt war.
An jenen Tagen, an denen Portia diesen Hunger nicht stillen konnte, bearbeitete der Parasit ihren Verstand mit seinen tödlichen Krallen, vertrieb Vernunft und Realität und ließ sie in jedem Crewmitglied Molak sehen. Sie metzelte alles und jeden nieder, bis einer ihrer vielen treuen Wachhunde bellte und ...
... Molaks Visage sich in schwarzen Nebel auflöste.
Die verängstigte Crew wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihnen ihr Wahnsinn zum Verhängnis werden würde. Und so planten sie eine Meuterei, als sie Molak endlich aufgespürt hatten.
Doch sie hatten ihre Kapitänin unterschätzt.
Als Portia mit ihnen fertig war, standen nur noch fünf von ihnen in einem See aus Blut und Eingeweiden. Sofort bettelten sie um Gnade, während Portias Hunde sie umzingelten und auf den Tötungsbefehl warteten, der nie kam.
Um Molak zu vernichten, brauchte sie mehr Hände als ihre eigenen. Sie schüttelte ihren Blutrausch ab und befahl den Meuterern, das Deck zu schrubben und ihre Hunde zu füttern, während sie die Nachttraum zur Insel des Verrückten Molaks steuerte.
Molak war gerade auf hoher See, aber Portias Crew konnte Tariq fassen. Sie sperrten ihn ein, bis sein Vater zurückkehrte.
Bei seiner Rückkehr fand Molak die Insel verlassen vor, nur eine Frau bot ihm Kisten voll Gold und Juwelen an. Sie gab vor, sich Molaks Crew anschließen zu wollen, und versprach ein großes Festmahl für ihn und seine Männer. Molak erkannte sie nicht und nahm den Schatz an. Er fragte nach Tariq. Sie lächelte und versicherte ihm, dass sein Sohn dem Essen beiwohnen würde.
Portia servierte Molak ein umfangreiches Mahl und er trank und speiste mit Genuss. Vor allem das Fleisch war vorzüglich, außen knusprig und dunkel und innen saftig und rosa. Er fragte, ob es sich um Wildschwein oder Reh handelte.
Portia grinste, stand stolz auf und griff über den Tisch, um eine goldene Abdeckhaube anzuheben, unter der Tariqs abgetrennter, glasierter Kopf in einem Angstschrei erstarrt zum Vorschein kam. Aus seinem Mund kugelten Gold und Juwelen.
Molak schrie wie ein verwundeter Stier und sie genoss seine Qual, während ein dichter schwarzer Nebel wie ein dunkler Schleier aus dem Boden trat. Doch bevor sie Molak erschlagen konnte, zog ihn etwas Unsichtbares in die Dunkelheit zurück.
Sofort erstarb ihr Lachen. Ihre Lippen verzogen sich in einer Mischung aus Panik und Wut. Die Adern an ihrem Hals traten hervor. Klauen griffen nach ihrem Verstand, packten zu und ließen nicht mehr los. Er war fort! Verschwunden! Noch bevor sie seinen Kopf zu blutigem Mus zertreten hatte können.
Wirre Worte zischten aus ihrem Mund und wurden zu einem kehligen Krächzen. Und gerade als sie schreien wollte, hörte sie etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte. Ein Bellen. Ein Bellen, das sie seit Jahren nicht gehört hatte.
Jetzt hörte sie es wieder.
Und wieder.
Strolch!
Er hatte Molaks Fährte aufgenommen.
Sie versuchte nicht, zu verstehen, was man nicht verstehen konnte, und eilte mit ihrem lange verlorenen Freund in den Nebel, um das zu beenden, was sie begonnen hatte.