Sable musste einfach adoptiert worden sein. Sie konnte unmöglich von ihrer unglaublich lebhaften Mutter und ihrem grinsenden, golfspielenden, nie erwachsen gewordenen Vater abstammen. Die beiden verstanden sie einfach nicht. Niemand in Greenville verstand sie. Außer Mikaela. Seit der dritten Klasse waren sie dicke Freundinnen. Davor hatte Sable keine Freunde gehabt. Sie stand nicht auf Ponys oder Puppen oder Teepartys mit Teddybären. Sie mochte Käfer, Echsen, Fahrradfahren und Schlammschlachten. Ihr Lieblingsfeiertag war Halloween und Mikaela war die Einzige, die sie nicht für verrückt hielt, als sie sich in der Achten die Haare lila färbte. Sables Mama war außer sich gewesen. Ihrem Vater war es nicht mal aufgefallen.
Mikaela begleitete sie zum Einkaufszentrum, als sie sich Ohrlöcher stechen ließ, und half ihr, ihr erstes Tattoo auszusuchen. Ein okkultes Symbol an einer Stelle, die ihre Eltern nie sehen würden. Mikaela wollte kein eigenes Tattoo. Sie liebäugelte mit der dunklen Seite, lebte sie aber nicht aus. Nicht wie Sable.
Die dunkle Seite passte zu Sable und sie kostete sie voll aus.
Zum Teil, weil sie damit ihre Eltern und Lehrer ärgern konnte. Zum Teil, weil sich das nach ihr anfühlte. Manche bezeichneten sie wegen ihres Aussehens als eine Goth. Aber sie hielt nichts von Schubladen. Sie liebte Horrorfilme und fand alles Okkulte aufregend. Das passte zu ihr. Sie wusste, dass die glänzende Vorstadtwelt ihrer Mutter und ihres Vaters auch eine dunkle Kehrseite hatte. Sie trauten sich nicht, sich ihren Ängsten zu stellen, also taten sie so, als wäre alles perfekt und als würden sie ewig leben. Aber Sable wusste es besser. Der Tod kommt alle holen und niemand kommt lebendig davon.
Mikaela verschaffte Sable einen Job im Moonstone. Wahrscheinlich der einzige Laden in der Stadt, in der man sie anstellen würde. Sie nahm Unterricht am College und produzierte auf ihrem Dachboden eine Guerilla-Radiosendung mit ihrem Kurzwellenradio. „All Things Wicked This Night“ handelte von den dunklen Seiten der Welt. Dem Okkulten. Den Großstadtlegenden. Dem Grauen. Und oft führte sie hitzige Diskussionen mit Mikaela über die Horrorfilme, die sie sich im einzigen Kino von Greenville ansahen. Mikaela gefielen Horrorfilme, die auch ein wenig lustig waren, Sable mochte sie gemeiner. Furchterregender. Blutiger. Sie feierte das Blut. Sie genoss das Grauen. Liebte es, das Adrenalin zu spüren. Und ihre Diskussionen waren auf jeden Fall unterhaltsam.
Auf der Suche nach Inspiration für ihre Sendung ging Sable oft auf dem Friedhof spazieren, auf dem die Statuen und Grabsteine von den ersten Siedlern standen, die die Stadt als Zufluchtsort für alle aufgebaut hatten, die verfolgt wurden. Oft sprach sie in ihrer Sendung über dieses Vermächtnis und über ihre Theorie, dass die ungewöhnlichen Geschehnisse und Vermisstenfälle irgendwie mit der Geschichte der Stadt verknüpft waren. Ein Anrufer vermutete, dass die Stadt auf einem Riss erbaut worden war. Er erklärte weiter, dass ein Riss eine Überschneidung zweier Welten war. Ein anderer Anrufer fügte hinzu, dass diese Risse von einem uralten Kult erschaffen worden waren, der vergessene Dämonen verehrte. Wieder ein anderer Anrufer sah in den Rissen ein kosmisches Buffet für einen uralten Gott, der sich von Schmerzen, Furcht und Not ernährte. Und der letzte Anrufer meinte sogar, dass es gar kein Riss war, sondern das Unbekannte, ein geheimnisvolles Wesen, das alle verschlang, die es wagten, auch nur daran zu denken. All diese Theorien hatten unterhaltsame, inspirierende Diskussionen zur Folge und sie liebte es, Horror im echten Leben zu diskutieren, bis dieser persönlich wurde.
Eines Abends hatte Sable Mikaela aufgefordert, beim alljährlichen Halloweenfest im Moonstone eine wahre Horrorgeschichte vorzutragen. Die Leute richtig zu erschrecken. Das Grauen nicht nur anzudeuten, sondern es richtig zu genießen. Eine Geschichte vom Unbekannten zu erzählen. Damit die Leute es sich vorstellen. Die Leute sollten glauben, dass das Unbekannte jederzeit auf der Bühne erscheinen könnte. Nichts sorgt für mehr Angst im Publikum als eine Show, die sie vielleicht nicht überleben werden. Mikaela lachte über die Idee und nahm die Herausforderung nicht an. Sie arbeitete schon an einer anderen Geschichte mit ihrem Mitbewohner.
Aber ein seltsamer, schwarzer Nebel hatte Mikaela während der Lesung verschlungen und Sable spürte die eiskalte Hand der Schuld im Nacken. Sie war überzeugt davon, dass sie Mikaela irgendwie ins Verderben gestürzt hatte. Hatte das Unbekannte sie geschnappt? Hatte sie versucht, das Unbekannte zu definieren? Was war mit ihrem Mitbewohner? Auch er war verschwunden. Aber dann fiel ihr ein, dass Mikaelas Geschichte gar nicht vom Unbekannten gehandelt hatte. Es ging um etwas anderes. Um eine andere Dimension. Eine Dimension voller schrecklicher Kreaturen, sadistischer Mörder und endlosem Grauen.
Das war nicht das Unbekannte.
Nach dieser Erkenntnis begann Sable, anderen Vermisstenfällen in Greenville nachzugehen. Bald erkannte sie, dass die meisten Leute im Kino oder in dessen Nähe verschwunden waren. Bei weiteren Nachforschungen fand sie heraus, dass das Kino auf den Überresten einer alten Schule mit nur einem Zimmer gebaut worden war, die in den 20er-Jahren abgebrannt war. Aus irgendeinem Grund konnten die Schüler nicht entkommen und alle starben in den Flammen. Sable hatte das Gefühl, dass sie der Antwort schon ganz nah war, und setzte ihre Nachforschungen fort. Sie stieß auf zwei jugendliche Brüder, die vor Kurzem aus dem Kino verschwunden waren. Elias und Elan. Die einzige Zeugin, ihre kleine Schwester Ellen, war in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden, nachdem sie sich die Augen ausgekratzt hatte. Und so gab Sable sich als Verwandte aus, um mit Ellen zu sprechen. Diese erzählte ihr, dass sie und ihre Brüder alte Filmplakate aus dem Lagerraum hinter der Leinwand stehlen wollten. Dann sprach sie von einer geheimen Tür im Keller und einem Durchgang zu einem anderen Ort.
Einem dunklen Ort.
Einem kalten Ort.
Einem bösen Ort.
Geh ja nicht dorthin, flehte sie Sable an. Meide ihn.
Aber Sable dachte nicht daran, ihn zu meiden.
Nicht nach dieser Geschichte.
Sie war entschlossen, Mikaela wiederzusehen, fuhr per Anhalter zum Kino und fand bald die Tür hinter der Leinwand. In der Dunkelheit brach sie die Tür mit einem Brecheisen auf und stieg knarzende Holzstufen in den feuchten Keller hinab. Der Lichtschalter ließ flackernde Leuchtstofflampen angehen, die einen Raum erhellten, der mit kaputten Kinosesseln und alten Filmplakaten aus den letzten 80 Jahren zugestellt war. Sie durchsuchte den weitläufigen Keller, bis sie eine dicke Holztür fand, die hinter einem Plakat des ersten Frankenstein-Films versteckt war. Sie drückte die Tür auf, hinter der sich eine endlose Wendeltreppe in die absolute Dunkelheit verbarg. Mit einer Stiftlampe erhellte sie ihren Weg und war schon zehn Minuten gegangen, als sie den kalten, schwarzen Nebel bemerkte, der aus der Tiefe aufstieg.
Derselbe kalte, schwarze Nebel, der auch Mikaela erfasst hatte.
Sable überlegte, die Treppe wieder hinaufzulaufen, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber dann musste sie an die schrecklichen Kreaturen und die sadistischen Mörder und das endlose Grauen denken, und fasste schnelle einen Entschluss: Ihre beste Freundin sollte nicht allein den ganzen Spaß haben.